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Glas halb voll! Der Pessimismus ist ausgemerzt.

Wer kennt sie nicht: unsere Happiness-Jünger. Gezwungen grinsend empfehlen sie uns Optimismus in Maximaldosierungen und mahnen uns mit wichtig hochgezogenen Augenbrauen, dass unser Hang zur morbiden Melancholie, zur zögernden Zurückhaltung und zur gepflegten tristezza falsch, falsch, falsch sei. Nachteile bei der Persönlichkeitsentwicklung und im Beruf stünden demjenigen ins Haus, der nicht augenblicklich positiv zu denken begönne. Ha – nimm das, Karl Valentin! 2016 wäre es wirklich eng für deine Social Reputation geworden.

Glas halb leer – aus syntaktischer und semantischer Sicht

Geboren aus der Ménage à trois von Esoterik, First-World-Philosophie und Pseudowissenschaft beabsichtigt die einhorninspirierte Denkweise nun offensichtlich, sich auch im Duden einzunisten. Und zwar in Form des halb vollen oder halb leeren Glases, einer hermeneutisch völlig aus dem Ruder gelaufenen Begriffsneuschöpfung, der dringend mal jemand auf die Fingerchen klopfen muss. Ich presche mutig voran und versuche eine semantische und syntaktische Annäherung. Was ich damit zeigen will? Dass die Suggestivfrage, ob ein Glas halb voll oder halb leer sei, keine Aussage über den Gemütszustand des Befragten zulässt. Wohl aber über das Kalkül des Fragenstellers. Und über die zunehmende Übergriffigkeit unserer Gesellschaft.

Photocredits: Adam Nieścioruk

Ideologie in der digitalen Welt

Um den Erfolg des Narrativs vom halb leeren und halb vollen Glases nachzuvollziehen, braucht es ein kurz vorangestelltes Wort über die Ideologie im Frühjahr 2016: Die Social Media befinden sich im arretierten Würgegriff von religiösen, politischen, ernährungstheoretischen, verschwörungstheoretischen – und spirituellen Schreihälsen. Was am Ende eines langen Prozesses in Form von Isis, Pegida, Geistheiler- und Hohle-Erde-Vorträgen in der Wirklichkeit sichtbar wird, beginnt lange vorher virtuell mit einer Art Instagram-Spiritualität, aber vor allem mit verkeimten Köpfen. Egal, wie sie heißen: Lutz Bachmann, Pierre Vogel, Eckhart Tolle, Katie Byron, Robert Betz, Xavier Naidoo … sie flüstern uns ihre Doktrin ein, die unterm Strich besagt, dass unsere Welt, unsere Maßstäbe und Systeme, aber natürlich auch wir selbst irgendwie noch nicht richtig sind. Wir könnten es aber natürlich werden, wenn wir auf ihren wohlfeilen Rat (€!) hören würden und uns optimieren ließen.

Das Wirkprinzip jeder Ideologie

Fanatiker sind grade auf dem Vormarsch. Die meisten von ihnen stellen einer guten (der sie natürlich selber angehören) antithetisch eine böse Welt gegenüber. Dazwischen gibt es nicht viel. Komplexität, Kompromiss und Kommunikation lösen in ihren Hirnen keine Faszination aus. Es gibt nur Schwarz und Weiß. Es gibt Stallgeruch und Xenophobie, Gott und Deibel. Der Brei, der ihrer quietschenden Weltachse Viskosität verleiht, wird zum Gutteil aus selektivem Blickwinkel und Narzissmus angerührt.

Und so gelten in der stark kontrastierten Weltsicht von Esoterikern auch Optimismus und Pessimismus als gänzlich unvereinbare, sich gegenseitig kategorisch ausschließende Charaktereigenschaften. Wen wundert also, dass esoterische Multiplikatoren im Sturm und Drang der Digitalisierung eine perfide kleine Pseudodichotomie in den Köpfen unserer Wellness-Bevölkerung verankern konnten: das Bild vom halb vollen oder vom halb leeren Glas. Diese Metapher soll auf den Punkt bringen, dass der Optimist der bessere Mensch ist, wogegen der Pessimist in einer Welt, deren intellektueller und emotionaler Überbau hauptsächlich aus Club Mate, Yogamatten und Hipsterbärten besteht, nichts mehr zu suchen hat. Ideologen legen gern die Lesart nahe, dass es sich bei dem eckigen Sprachbild um ein Sprichwort, richtiger um eine Redewendung handle, die der Volksmund vor langer Zeit hervorgebracht habe.

Etymologisch gesehen stimmt das aber gar nicht. Googeln Sie „Glas halb voll, Glas halb leer“ doch mal: Anhand der Suchergebnisse verstehen Sie schnell, dass das Narrativ gar nicht auf eine natürlich gewachsene Worthistorie zurückblickt, sondern von Coaches und Lifestyleblogs kultiviert wurde.

Versuchen Sie mal, einen abstrakt gemeinten Satz mit „Glas halb voll, Glas halb leer“ zu bilden!

Schon der Umstand, dass man „Glas halb voll, Glas halb leer“ im abstrakten Optimist-Pessimist-Sinn kaum in einen sinnvollen deutschen Satz eingliedern kann, liefert ein Indiz dafür, dass mit der Begriffsauslegung der zahlreichen Lebenscoaches und spirituellen Unternehmensberater etwas nicht stimmen kann.  Ich hab’s trotzdem versucht. „Schön! Langsam denkst Du beruflich schon etwas mehr Glas-voll“? Hä? Als Modaladverb wird das aber noch nix. „N’Kollege von mir, der Martin Schmidlechner, also der hat ja eine absolut Glas-leere Einstellung. Da bleibt die Führungsposition aber noch in weiter Ferne.“ Hm? Adjektivähnliche Konstruktion scheidet auch aus. „Und ich sach noch: Glas halb leer!“ Puh, Sprichwort funktioniert auch nicht, ich hab keine Lust mehr. Sorry – ohne das Bild superumständlich (was habe ich in diesem Artikel gekämpft!) erklären zu müssen, klappt die Integration einfach nicht. Es fügt sich nicht in die Syntax ein und ist kein Bestandteil unserer Sprache. Es existiert nur als abstraktes Denkmodell.

Wer „Glas halb voll“ oder „Glas halb leer“ sagt, hat immer eine ganz konkrete Intention – und keine Wahlmöglichkeit

Stattdessen zwei wohltuend einfach konstruierbare, deutsche Sätze mit „Glas halb voll, Glas halb leer“ gefällig? Geburtstagskränzchen bei den Nachbarn. Frollein Opitz hat sich die Zeit mühsam aus ihrem Kalender herausgeschnitten, weil sie morgen schon vor Sonnenaufgang nach Bremen fliegen muss. Auf die Frage, ob sie noch ein Schlückchen vom guten Rotkäppchen-Schampus wolle, antwortet sie: „Nein danke, mein Glas ist ja noch halb voll!“. Was sie damit ausdrücken möchte? Doch beileibe keinen lebensbejahenden, erfolgsorientierten Optimismus. Sie möchte in erster Linie mitteilen, dass sie vorerst keine weiteren Promille zu konsumieren beabsichtigt. Dahinter kann sogar in der zweiten Reihe die Andeutung mitschwingen, dass sie bald aufbrechen wird, weil sie morgen ihre Reise – unverkatert – antreten möchte. Oder dass ihr der Rotkäppchen-Sekt geschmacklich nicht zusagt, sie aber dennoch als höflicher Gast in Erinnerung bleiben möchte.

Photocredits: The Creative Exchange

Sie hätte diese Aussage verfälscht, wenn sie gesagt hätte: „Nein danke, mein Glas ist ja schon halb leer“. Sprachlich, also semantisch, hatte sie also überhaupt keine Wahl und musste in diesem Kontext „halb voll“ benutzen.

Hätte sie dagegen gesagt: „Logo, immer man nachgeschenkt! Mein Glas ist ja schon halb leer!“, hätte sie auf sympathische Weise angekündigt, noch etwas Zeit in geselliger Runde zu verbringen. Nicht der Hauch von Pessimimus zu diagnostizieren, sondern eine sehr konkrete Aussage, die sich unter keinen Umständen abstrakt umdeuten lässt. Sie zielt vollkommen unmissverständlich auf eine Handlungsanweisung ab: Einschenken, aber dalli! Und auch hier gibt es wie schon vorhin sprachlich keinerlei Spielraum, „halb leer“ aus Gründen der positiven Selbstoptimierung mit „halb voll“ zu ersetzen.

Photocredits: Alexe Rice

Nicht einmal in der Variante des oben Erörterten geht’s auf: Im Deutschen – übrigens auch im Englischen – ist ein Glas stets mit einer Flüssigkeit „gefüllt“, und eben nicht „geleert“. Alternativlos.  Wer sagen wollte: „dieses Glas ist mit 250 Milliliter Schwarztee geleert“, der macht eben eindeutig einen Semantikfehler. Dieser Logik folgend haben auch die Substantive „Füllung“ oder „Leerung“ eindeutige Semantiken, die sich nicht nach Belieben (oder Positivitylevel) austauschen lassen.

Glas halb voll, Glas halb leer?

Bitte, welcher Bazi hat also als Erster das volle und das leere Glas aus ihren ziemlich eindeutigen Sprachkontexten gerissen und sie in eine fremde semantische Umgebung transplantiert, in der sie nichts verloren haben?

Ich glaube ehrlich gesagt, es war der Watzlawick. Als Vertreter des Radikalen Konstruktivismus‘ nahm er an, dass es zwar eine Wirklichkeit gäbe, innerhalb derer Menschen existierten und agierten. Wir könnten diese Wirklichkeit halt bloß nicht erkennen – und konstruierten stattdessen unsere eigene Wirklichkeit. Der reine Fakt, dass ein Glas „zur Hälfte gefüllt ist“ (man beachte das Wording, siehe oben), entspräche der Watzlawik’schen Wirklichkeit erster Ordnung. Sobald wir jedoch die physikalische Tatsache des Pegelstands im Glas mit emotionaler Bedeutung auflüden und davon zu sprechen begönnen, dass das Glas – eben – „halb voll“ oder „halb leer“ sei –, entspräche dies der Watzlawik’schen Wirklichkeit zweiter Ordnung. Ein Schelm wer glaubt, dass hier lediglich zwei hinsichtlich Semantik und Kontext beliebige Wordings konstruiert wurden – nicht aber eine individuelle Wirklichkeit rund um ein triviales Wasserglas.

Pseudowissenschaftlichkeit veranschaulicht.

Dass der sprachlich vollkommen überfrachtete Mythos vom halb vollen oder halb leeren Glas so leicht an unserer Wohlstandsdenke andockt und wir ihn so gerne als megadeepe Einsicht in unser Menschsein verstehen würden, hängt vermutlich an unserer Affinität für schwarzweiße Weltbilder, an unserer unerschütterlichen Bewunderung für den calvinistisch-karmisch entlohnten Tellerwäschermillionär sowie an unserer Anfälligkeit für pseudowissenschaftliche Binsenweisheiten. Denn wer das Bild kolportiert, der setzt vermutlich voraus, dass es sich dabei um eine Art Versuchsanordnung handelt, in der der Herr Professor im weißen Kittel seinen Probanden im Rahmen einer Studie die Frage stellt, ob das Glas, das sie vor sich sähen, halb voll oder halb leer sei.

Klingt erstmal plausibel. Aber bei genauem Hinsehen kann es so eine Versuchsanordnung natürlich nicht geben. Denn Suggestivfragen verbieten sich in einer seriösen Studie von selbst – vorausgesetzt, man möchte zu einem repräsentativen und ehrlichen Ergebnis gelangen. „Herr Prokopetz: sehen Sie dieses Glas? Ist es Ihrer Meinung nach halb voll oder halb leer?“ Bitte um Entschuldigung, aber jeder Proband begreift, dass es sich hierbei – in memoriam Loriot und Steinlaus – um einen humanistischen Scherz handeln muss. Denn „halb voll“ und „halb leer“ gelten im Rahmen unserer hypothetischen Studie ganz offensichtlich und für jeden identifizierbar als sprachliche Synonyme, die sich nicht dazu eignen, den immer gleichen Füllungszustand des Glases nach Lust und Laune subjektiv zu interpretieren. Die erwartbarste Erwiderung auf obige Frage wäre also die Gegenfrage: „Aber Prof. Dr. Dr. Müller-Rübenschmidt, ‚halb voll‘ und ‚halb leer‘ ist doch hier ein und dasselbe!?“.

Und hier die Studie zu „Glas halb voll – Glas halb leer“! Ach nee, doch nicht.

Selbstredend konnte ich die Existenz einer solchen Studie nicht verifizieren, wobei es ein Leichtes wäre, wenn es sie wirklich gäbe. Der tatsächlich zur Redensart gewordene Pawlowsche Hund zum Beispiel brilliert mit einem enormen Wikipedia-Eintrag, dem das Milgram-Experiment kaum nachsteht. Nur der Wikipediaeintrag dieses Glas-voll-Glas-leer-Dingens glänzt mit Lücken und mehr Fragen, als Antworten. Philosphisch soll diese Fragestellung also sein? Auch dazu konnte ich nicht viel finden. Offensichtlich deshalb, weil das Bild nicht einmal zum philosophischen Streitgespräch besonders viel taugt. Kurzer Schmunzler – nächstes.

So ist es einigermaßen lustig zu beobachten, dass dieses pseudowisschenschaftliche Narrativ hie und da sogar im akademischen Umfeld zitiert wird, ohne dass man dort erkennen würde, dass es die Anforderungen an wissenschaftliche Methodik nicht im Ansatz erfüllt.

Esoterischer Mumpitz schlägt sich in Sprache nieder

Fassen wir also zusammen:

1. Die einzige Möglichkeit, im Alltag verständlich von einem halb leeren oder von einem halb vollen Glas zu sprechen, läuft im Rahmen einer metaphorischen Handlungsaufforderung in einer ganz konkreten, immer individuellen Sender-Empfänger-Situation ab.

2. Eine Studie, die beweisen könnte, dass Optimisten automatisch denken, dass ein bis zur Hälfte gefülltes Glas halb voll, Pessimisten dagegen automatisch denken, dass es halb leer sei, ist nicht bekannt.

3. Auch ein philosophischer Diskurs zum Thema fehlt oder geht höchstens soweit, sich kurz über die Trivialität der Frage lustig zu machen.

Bei Glas-halb-Sie-wissen-schon handelt es sich meiner Meinung nach um einen Sprachmythos, der sich deshalb so gut kultivieren lässt, weil unsere Gesellschaft immer merkwürdiger und übergriffiger wird. Glas-halb-voll-Glas-halb-leer bietet keine tiefsinnige Einsicht in die Psyche des Menschen, sondern ist eine manipulative Erfindung, die hauptsächlich Lifestyle-Coaches, Esoteriker und anderes Gelichter dazu missbrauchen, ihren Neukunden dringenden Optimierungsbedarf nahezulegen. Den eingangs erwähnten Superpessimisten Karl Valentin und seine Lisl Karlstadt würde es im Jahr 2016 dann nicht geben. Das ist doch schade, Leute!


Photocredits Header: Margarete Mouqqadim

Ich bin in der Doppelmission unterwegs, a) der schönen Kunst der Sprachjonglage ein Denkmal zu bauen und b) wertvolle Einblicke ins maximal durchtrivialsierte Leben einer Texterin zu eröffnen. Verpassen Sie keinen Bloqqartikel mehr und liken Sie Fräulein Bloqqa auf Facebook. Etwas weniger schillernd – aber immerhin auch social – geht’s auf LinkedIn und XING zu.

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